Business Transformation in der Schweiz? Abgesehen von Schwergewichten wie Glencore (viertgrößter Rohstoffhändler der Welt), Nestlé, Novartis, Kühne + Nagel oder Liebherr bleiben eidgenössische Unternehmen hierzulande weitgehend unter der Käseglocke vieler Beobachter. Das gilt insbesondere für unsere mittelständischen Nachbarn. Diese einmal im Jahr für auswärtige Beobachter zu lupfen, ist eine Funktion des Ostschweizer Personaltags in St. Gallen. Wichtig für die Teilnahme sind übrigens gute Kenntnisse in Schwiizerdütsch. Die 17. Ausgabe fand heuer am 22. September unter dem Motto „HR in turbulenten Zeiten – Spagat zwischen Innovation und Konstanz“ statt. Wir von der Changeberatung viadoo waren online dabei und dokumentieren hier wichtige Wandelvorhaben einiger großer eidgenössischer Player.
Migros Industrie: 20 Firmen unter einem Dach
Was hierzulande Lild und Aldi sind, sind in der Schweiz Coop und Migros. Beide eidgenössische Genossenschaften stehen unter enormen Veränderungsdruck. Der entsteht unter anderem durch das Vordringen der beiden genannten Mitbewerber aus Deutschland, aber auch durch Online-Giganten wie Amazon. Bei Migros stellen insgesamt 20 Unternehmen den Großteil der Waren her, die der Händler in seinen Super- und Fachmärkten anbietet. Diese Produktionsfirmen sind in der Migros Industrie AG gebündelt. Den notwendigen Wandel steuert die Gruppe mit dem Programm MIND-Change. Neben dem Abbau von Doppelstrukturen und dem Heben von Synergien wollen die Verantwortlichen damit vor allem erreichen, dass sich die Beschäftigten aller 20 Firmen als ein vernetztes Team in einem Unternehmen verstehen. Wie das gelingt, erläuterte Karin Schmidt auf dem Ostschweizer Personaltag. Sie ist Group Head of HR & Communication und Mitglied der Geschäftsleitung bei der Mibelle Group, die zur Migros Industrie AG gehört.
Der Programmname „MIND-Change“ ist bewusst doppelsinnig: Zum einen steht er für die Transformation der Migros Industrie AG (abgekürzt MIND) hin zu einem einenden Dach von 20 Firmen. Zum anderen beschreibt der Name das Ziel einer dazu erforderlichen veränderten Einstellung der über 14.000 Beschäftigten (Mindset-Change). Konkret verfolgt die Migros Industrie AG folgende Ziele mit der Transformation:
Ziele des MIND-Change der Migros Industrie
- Kulturwandel von „Segmenten als Einzelkämpfer“ hin zu einem Team mit einem einheitlichen Leadership-Verständnis.
- Organisationsentwicklung von einer Vielzahl von Unternehmen mit einzelnen Geschäftsleitungen hin zu Business Units mit kunden- und kategorieorientierten Strukturen.
- Wandel von individuellen Verkaufsaktivitäten hin zu gebündeltem und koordinierten Vorgehen für Migros, Gastro und internationale Kanäle.
- Überwinden von Doppelaktivitäten mit dem Migros-Genossenschafts-Bund (MGB) hin zu einer echten Partnerschaft mit dem MGB und GMs in Marketing, Verkauf und Innovation.
- Weiterentwicklung von lokalen Experten zur Industrie Best Practices.
- Wandel von der Optimierung im Segment hin zur Konsolidierung der Support-Funktionen in einer Matrix auf Segment-, M- Industrie- und Migros-Gruppen-Ebene.
Von der Vision bis zur Female Talents Initiative
Weil jeder erfolgreiche Change eine Vision benötigt, stand auch dieser am Beginn des Transformationsprozesses der Migros Industrie. Anschließend entwickelten die Führungskräfte ein Leitbild in Form einer Leadership Initiative (LSI). Mit ihren drei Prinzipien Pioniergeist, Gemeinschaft und Verantwortung bildet die LSI den Rahmen für die neue Zusammenarbeit und Führung. Inwieweit diese Prinzipien tatsächlich im Alltag der 20 Firmen gelebt werden, wie sich die kulturellen Veränderungen entwickeln und wie stark sich die Beschäftigten engagieren, ermittelt die Personalabteilung in regelmäßigen Feedbacks.
Um die Migros Industrie noch attraktiver für Frauen zu machen, initiierte HR eine Female Talent Initiative. Nach einer entsprechenden Befragung erarbeiteten Teilnehmerinnen in einem Workshop drei zentrale Handlungsfelder:
- Förderung ausgewogener Geschlechteranteile in allen Teams
- Förderung der Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf
- Eine inklusive Unternehmenskultur
Auf die Frage von Moderatorin Sabine Bianchi, ob schon erste Anzeichen einer gemeinsamen Kultur zu spüren seien, antwortete Karin Schmidt in schönstem Schwiizerdütsch: „Es chunt!“
Graubündner Kantonalbank: Fokus auf Kunden & Millennials
Ein weiteres Beispiel für die Business Transformation in der Schweiz ist die Graubündner Kantonalbank (GKB). Im Jahre 1870 gegründet, brauchte sie rund 130 Jahre, um auf ein Vermögen in Höhe von rund elf Milliarden SF zu kommen. Das berichtete ihr HR-Chef Dr. Alexander Villiger, auf dem 17. Ostschweizer Personaltag. Vor 15 Jahren entwickelte der Vorstand dann eine neue Strategie. Seither steht die Kundenorientierung im Zentrum des Handelns der Bank. Ein Change mit Erfolg: Seither ist das Vermögen des Kreditinstituts mit Hauptsitz in Chur auf über 28 Milliarden SF gewachsen. Wozu zuvor 130 Jahre notwendig waren, gelang danach in rund einem Zehntel der Zeit.
Millennial- und Futura-Board machen die Bank zum Berater
Doch auch intern entwickelte sich die Bank weiter. So hat sie jüngst ein neues Führungsleitbild für die Arbeitswelt 4.0 entwickelt und plant die unternehmensweite Einführung flacher Hierarchien. Damit will sie weiter attraktiv für Millennials werden, also für Fachkräfte, die zwischen den frühen 1980er und den späten 1990er Jahren geboren wurden. Mit ihnen entstand zum Beispiel das Millennialboard, ein Startup mit jungen Leuten, das selbst Firmen aus Norddeutschland berät, sowie das Young-Talent-Board namens „Futura“. Letzteres entstand zunächst zu dem Zweck, dass die Generation Y ihren Wunscharbeitgeber 2025 entwickelt. Mittlerweile bildet das 15-köpfige Team gewissermaßen ein GKB-internes Startup.
Wenn es nach Alex Villiger geht, würden weitere große Firmen im Kanton Graubünden so ein Futura-Board gründen. Würden sie sich untereinander vernetzen, entstünde ein Netzwerk aus Experten der Generation Y, die bei Bedarf innerhalb kürzester Zeit Lösungen für anstehende Probleme entwickeln könnten. Kostenlos für interessierte Firmen und Organisationen. Gemeinsam könnten sie so Graubünden, einen der strukturschwächsten Kantone der Schweiz, nach vorne bringen, ist Villiger überzeugt.
Helvetia: Versicherung produziert 75.000 Videos pro Jahr
Neue Wege beim Rekrutieren junger Fachkräfte (Millennials, Generation Z) geht auch die Schweizer Versicherungsgruppe Helvetia mit ihren knapp 12.000 Beschäftigten. Der 1858 gegründete Versicherer mit den Geschäftsfeldern Leben- und Nicht-Lebengeschäft sowie Rückversicherung legt großen Wert auf ein möglichst einfaches Bewerbungsverfahren für Job-Interessenten. Davon konnte Liza Follert, Head People Attraction Helvetia Versicherungen Schweiz, die Teilnehmenden des Ostschweizer Personaltags überzeugen. Sie hatte auf der Website des Konzerns extra einen fiktiven Job angelegt. Den klickten die Gäste mit ihren Handys an und durchliefen anschließend den kurzen digitalen Bewerbungsprozess.
„Wir erfragen im ersten Schritt nur ein paar wenige Grunddaten sowie den Lebenslauf der Bewerberinnen und Bewerber“, erläuterte sie. Während dies auch viele andere Firmen praktizieren, verblüfft Helvetia mit einer absolut individuellen und emotionalen Ansprache nach dem Versand der Bewerbung: Für jede Bewerberin produziert der Versicherer ein eigenes Dankes-Video. Darin sieht man einen Recruiter, der sich über den Eingang der neuen Bewerbung so freut, dass er gleich durchs ganze Firmengebäude rennt, um allen davon zu erzählen. Zwischendurch wird der Name des Probanden eingeblendet. Eine sehr schöne Idee und Storytelling at it’s best!
Auf diese Weise kommen jährlich 75.000 Videos zustande, die die Helvetia produziert. Übrigens: Alle Teilnehmenden, die sich auf dem Ostschweizer Personaltag bei Helvetia „beworben“ hatten, erhielten am nächsten Tag eine freundliche Absage per E-Mail mit einem Link auf ein weiteres Video. Darin warben die beiden Recruiter um Verständnis für die Absage und entließen die Bewerber mit einem aufmunternden „Man sieht sich bekanntlich zweimal im Leben“.
Die Business Transformation in der Schweiz ist in vollem Gange
Zu den weiteren Referenten des 17. Ostschweizer Personaltags gehörten Adrian Brunner, Employee Relations Manager EMEAR (Europa, Naher Osten, Afrika, Russland) von Cisco Systems, Daniel Frei, Mitinhaber/CEO von tibits in St. Gallen/Zürich, sowie Pater Christian Meyer, Abt des Benediktinerklosters Engelberg. Sie trugen weitere Beispiele dafür vor, wie weit die Business Transformation in der Schweiz bzw. in Schweizer Unternehmen vorangeschritten ist. Für diese Einblicke sagen wir den Teilnehmenden sowie den Organisatoren in St. Gallen ein herzliches „Dankene vielmals!“
Titelbild: Migros Genossenschafts Bund (MGB)