Die Coronakrise entpuppt sich immer mehr als Booster der Digitalisierung. Das betrifft auch den stationären Einzelhandel, der einen schweren Stand gegenüber seinem digitalen Bruder eCommerce hat. Am Beispiel der Kassierer wird das deutlich: Zwar sind ihre Leistungen in der Coroakrise absolut bewundernswert und zweifellos systemkritisch. Doch rein technisch gesehen, sind Menschen an Kassen im Zeitalter der Digitalisierung entbehrlich. An ihre Stelle treten unter anderem Liefer- oder Abholservices von Märkten des Lebensmitteleinzelhandels (LEH), die keine Kassierer kennen und in Zeiten von COVID-19 noch stärker nachgefragt werden. REWE war 2015 die erste große LEH-Supermarktkette in Deutschland, die in der Fläche entsprechende Angebote schuf. Einzelne EDEKA-Franchise-Nehmer zogen nach – etwa die Neukauf Markt GmbH in Offenbach am Main mit EDEKA24 oder Marco Trabold e.K. mit einer Abholstation in Würzburg. Größter Vorteil: der gesamte Lebensmitteleinkauf erfolgt kontaktlos. Wie stark der Zulauf ist, erleben Kunden derzeit hautnah: Abholfächer sind über Wochen ausgebucht.
Sicher, nach COVID-19 werden die meisten Menschen wieder gerne durch Warengänge großer Lebensmittelmärkte laufen und das dortige Angebot mit allen Sinnen erleben wollen. Doch Kassierer werden dafür nicht benötigt, wie noch auszuführen sein wird. Hinzu kommt, dass die Angst vieler Menschen vor Schmier- und Tröpfcheninfektion die aktuelle Krise überdauern dürfte. Die Folge wäre eine weiter wachsende Nachfrage nach Abholstationen für schnelldrehende Produkte bzw. Fast Moving Consumer Goods (FMCG). Denn diese Angebote haben gegenüber Lieferdiensten den zusätzlichen (und ursprünglichen) Vorteil, dass man auch weit nach Ladenschluss seinen zuvor online getätigten Einkauf noch erhält. Das bedeutet dann nicht nur die weitere Disruption der Kassierer in Supermärkten. Vielmehr steckt hinter diesem Change eine neue Chance für den Lebensmitteleinzelhandel und seine Berufsbilder.
Einkaufen alt: Nehmen, heben, rollen, wuchten
Es gibt zwar ständig mehr Single-Haushalte in Deutschland. Doch nach Angaben des Statistischen Bundesamtes leben noch immer in 58 Prozent der Haushalte zwei oder mehr Menschen. Gerade für Familien mit Kindern ist der regelmäßige Einkauf von Lebensmitteln und anderen FMCGs eine Kraftanstrengung – zumindest in der traditionellen Form (vgl. Foto lange vor der Coronakrise).
Dazu lohnt ein Blick auf wesentliche Etappen des Einkaufsprozesses. Nüchtern betrachtet, durchlaufen die Waren dabei folgende Schritte:
- Wir nehmen die Waren zunächst aus den Regalen und legen sie in den Einkaufswagen.
- An der Kasse heben wir die Waren dann aus dem Einkaufswagen aufs Förderband.
- Nach dem Scannen durch die Kassierer und dem Bezahlen heben wir die Waren vom Förderband in Behältnisse.
- Anschließend rollen wir die Behältnisse mit den Waren samt Einkaufswagen zum Auto.
- Am Auto wuchten wir die Waren vom Einkaufswagen in den Kofferraum.
- Zuhause schließlich müssen wir die Waren wieder ausladen und in Vorratskammern einräumen.
In den USA wurden uns Kunden bereits in den 80er Jahren zumindest die körperlichen Tätigkeiten der Schritte 3, 4 und 5 von freundlichen Servicekräften abgenommen. Die Kassierer und damit der Schritte 2 blieben aber weiter notwendig. Das änderte sich übrigens auch nicht, als große Player wie hierzulande etwa IKEA sogenannte Selbstzahler-, Selbstbedienungs- oder Express-Kassen einführten. Denn auch dort müssen wir jede einzelne Ware aus dem Einkaufswagen herausnehmen und scannen. Allein mit den künftigen Amazon-Go- und Amazon-Go-Grocery-Geschäften werden die Schritte 2 und 3 entfallen. Denn darin registrieren Sensoren automatisch, welche Waren die Kunden mitnehmen, und ziehen die Beträge digital ein.
Einkaufen neu: 24/7 bestellen und abholen
Konzepte mit SB-Kassen (Bsp. Metro/Real) oder ohne Kassen (Amazon Go) sind Realität – nicht nur weil sie technisch möglich sind, sondern auch, weil sie Personalkosten sparen. Sie haben jedoch einen großen Nachteil aus Kundensicht: Sie ersetzen maximal nur die Schritte 2 und 3 des sechsstufigen Einkaufsprozesses. Anders verhält es sich bei den Liefer- und Abholservices des LEH: Sie ersetzen für die Kunden den oben skizzierten Einkaufsprozess nahezu komplett.
Kunden bestellen online wann immer sie möchten und holen sich die Ware, wann immer sie können. Allerdings braucht es auch in diesem Szenario jemanden, der die bestellte Ware zusammensucht, in Behältnisse verpackt und zur Abholung bereit stellt. Solange das im Lebensmittelhandel nicht der Kollege Roboter übernimmt, bilden diese Aufgaben potenziell neue Chancen für ehemalige Kassierer. In einer Übergangszeit allerdings verursacht diese Disruption zunächst zusätzliche Kosten: Online-Shops müssen aufgebaut, Warenwirtschaftssysteme angepasst, zusätzliches Personal für Abhol- und Lieferservices rekrutiert werden.
Übrigens ergibt sich aus dem Zahlenspiegel 2019 des Handelsverbands Deutschland (HDE), dass Einzelhändler schon seit 2017 jährlich weniger Geld in den Kassenbereich investieren. Ebenfalls bemerkenswert: Mehr als jeder zweite Händler hat die Kundenfrequenzen in seinen Läden in den vergangenen beiden Jahren als sinkend bzw. deutlich sinkend eingeschätzt. Gleichzeitig steigen die Ausgaben der privaten Haushalte für Lebensmittel seit Jahren an. 2018 betrugen sie deutschlandweit 235 Mrd. Euro. Auf den Lebensmitteleinzelhandel mit seinen rund 70.000 Unternehmen, 114.000 Läden und 1,3 Mio. Beschäftigten kommen in den nächsten Jahren sicher noch viele Veränderungen zu.
Fotos: © Faust / viadoo GmbH