Innovationen werden gemeinhin als Neuerungen verstanden, die mit technischem, sozialem und wirtschaftlichem Wandel einhergehen. Für den schweizerischen Vordenker Dr. Joël Luc Cachelin ist das jedoch zu banal. Seines Erachtens verdienen neue Produkte und Prozesse nur dann das Prädikat „Innovation“, wenn sie einen gesellschaftlichen Nutzen entfalten. Deshalb forderte er zuletzt auf den Business Days der Swisscom AG ein neues Innovationsverständnis bzw. eine neue Innovationslogik.
Unsere Zeit ist geprägt von digitalen Pseudo-Innovationen
Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Erkenntnis, dass sich die Menschheit im Grunde genommen mitten in drei großen Transformationen befindet:
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- Die alternde Bevölkerung (demographische Transformation).
- Das sich wandelnde Klima (ökologische Transformation).
- Die ständige Zunahme an Künstlicher Intelligenz, Robotern etc. im Alltag (digitale Transformation).
Die meisten Neuentwicklungen unserer Zeit betreffen jedoch nach Einschätzung von Joël Luc Cachelin nur die digitale Transformation. Und auch hier habe es in den letzten zehn bis 15 Jahren keine wirklich revolutionären Neuerungen gegeben. Eine der letzten sei 2007 die Erfindungen des iPhone gewesen. Was danach kam, seien eher digitale „Pseudo-Innovationen“ gewesen, die unser Leben nicht wirklich besser gemacht hätten.
Es braucht eine Innovation der Innovationen
Ausgehend von dieser These regt der Inhaber der „Wissensfabrik“ eine Innovation der Innovationen an, ein neues Innovationsverständnis also. Denn das heutige Verständnis von Innovationen, so seine weitere Annahme, stamme aus den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts.
Damals stand die Eroberung des Weltraumes im Fokus, das Atomzeitalter war eingeläutet worden, der Mensch machte sich die Erde buchstäblich untertan – in der irrigen Annahme, so grenzenlos sei es ihm im Alten Testament doch aufgetragen worden. Heute müssen wir mit den technischen, ökologischen und sozialen Konsequenzen des damaligen Innovationsverständnisses leben: Blechlawinen in den Innenstädten, kein Endlager für Atommüll, Weltraumschrott, Mikroplastik in der Nahrungskette, Antibiotika-Resistenzen, einsame Menschen, überalterte Gesellschaften.
Doch Cachelin sieht in diesen Auswirkungen der Innovationslogik der Nachkriegszeit auch Chancen. So könnten sie zur Neudefinition des Prädikats „Innovation“ beitragen. Demnach hätten das nur jene Neuerungen verdient, die bei der Bewältigung der genanten Herausforderungen unterstützten und somit gesellschaftspolitischen Nutzen entfalteten.
Innovationsquellen Retro-Futur und Futur-Futur
Aber wie entwickelt man Innovationen, die dieses Prädikat verdienen? Interessanterweise schlägt Cachelin dazu zum einen Zeitreisen just in jenes Jahrzehnt vor, in welchem der Mensch die Wurzeln vieler aktueller Probleme gelegt hat („Retro-Futur“). Denn schon in den 50er Jahren habe es Menschen gegeben, die sich zum Beispiel Gedanken über die Versorgung der wachsenden Weltbevölkerung gemacht hätten (Erfindung der Algen als Nahrungsmittel) oder über natürlichere und gesündere Lebensformen.
Ein anderer Weg wäre ein Blick in die Zukunft („Futur-Futur“) etwa durch die Lektüre von Science-Fiction-Literatur oder durch Beobachtung der Entwicklung von Megastädten in Asien. Und schließlich, so Cachelin weiter, stecke in jedem von uns Innovationspotenzial. Wir alle könnten uns fragen, was derzeit auf gesellschaftspolitischer Ebene nicht gut läuft und wie wir es zum Besseren verändern könnten.
Antikörper: Das gesellschaftliche Immunsystem
Diese Idee hat der Referent selbst bereits umgesetzt und Lösungen für drei Risiken entwickelt, die unsere Gesellschaften aktuell und in Zukunft bedrohen: Pandemien, Wirtschaftskrisen und negative Auswirkungen der Digitalisierung. Angewandt auf das Gesundheitswesen, spricht sich Cachelin für das Prinzip WeHealth aus. Dahinter verbirgt sich die These, dass die Gesundheit des Individuums von der Gesundheit des Kollektivs abhängt.
In der Folge stellt sich der Futurist vor, es gebe in jedem Haushalt ein Minilabor, das Gesundheitswerte eines jeden dort wohnenden Menschen erfasst. Etwa durch die Analyse der ausgeatmeten Luft. Darüber hinaus analysiert ein Computer die Musik, die jeder streamt und zieht daraus Rückschlüsse auf die individuelle psychische Verfassung. All diese Daten werden gebündelt und würden Rückschlüsse auf den gesundheitlichen Aspekt des gesellschaftlichen Immunsystems zulassen, so Cachelins Idee.
Fazit: Sehr bedenkenswert
Nicht zuletzt wegen der inflationären Verwendung des Begriffs „Innovation“ erscheint es in der Tat sinnvoll, einmal über seine Neudefinition nachzudenken. Joël Luc Cachelin möchte Neuerungen zum einen daran messen, ob sie die drei großen Transformationen unserer Zeit (Demographie, Ökologie, Digitalisierung) unterstützen. Zum anderen sei relevant, ob sie negative Auswirkungen des früheren Innovationsverständnisses beseitigten.
Der schweizerische Futurist hat auch klare Vorstellungen davon, was Unternehmen zu einem solchen neuen Verständnis von Innovation beitragen können. Neben der Nutzung des Innovationspotenzials ihrer Beschäftigten wären das:
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- eine höhere Diversität (bezüglich Geschlecht, Alter, Fähigkeiten etc.)
- mehr historische Fähigkeiten (Lernen aus der Vergangenheit)
- mehr grüne Skills (zur Umsetzung der ESG-Ziele)
- neue Rollen wie einen Hospitality Manager, einen Chief Immunsystem Manager und einen Chief Question Manager.
Allerdings: Würde man Cachelins Ideen in einen Innovation Funnel gießen, stellte sich spätestens in der Bewertungsphase die Frage nach dem Datenschutz. Das beträfe etwa seine Vorschläge, dass wir alle unsere Fotos und Videos dem Kollektiv zur Verfügung stellen (zur Traumata-Behandlung künftiger Generationen), oder dass wir für gesundheitsförderndes Verhalten belohnt würden (ähnlich dem Denta-Coin für regelmäßige Dental-Hygiene). Da könnte es nicht mehr weit sein zum Social-Scoring-System in China, was noch zu diskutieren wäre. Dennoch bleibt sein Ansatz sehr bedenkenswert.