Hierarchische Systeme sind unter jungen Leuten nicht sehr beliebt. Etliche Studien belegen, wie wichtig Berufseinsteigern stattdessen agile Organisationen mit flachen Hierarchien sowie Vorgesetzte mit primär dienender Attitüde (Servant Leadership) sind. Dennoch muss es auch weiterhin soziale Systeme mit hierarchischen Strukturen geben. Paradebeispiel dafür ist das Militär. Dessen Führungsprinzip basiert auf Macht qua Dienstgrad und Rolle sowie dem darauf aufbauenden militärischen Funktionsprinzip Befehl und Gehorsam. In verdichteter Form existiert dies auf einem Kriegsschiff, das monatelang auf den Weltmeeren unterwegs ist und von dem es kein Entrinnen gibt.
Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages, Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), war im November vergangenen Jahres kurz Gast auf solch einem schwimmenden Waffensystem. Nämlich auf dem amerikanischen Flugzeugträger USS Gerald R. Ford (CVN 78). Anlass war die Integration der deutschen Fregatte Hessen in die United States Navy Carrier Strike Group 12 (CSG-12) im Mittelmeer. Und zwar vor dem Hintergrund des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine. In Begleitung der FDP-Politikerin befanden sich unter anderem der Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn, sowie der (neue) Inspekteur der Marine, Vizeadmiral Jan C. Kaack. Solche gut vorbereiteten Blitzbesuche pflegen die deutsch-amerikanische Freundschaft und die nordatlantische Bündnissolidarität. Sie lassen jedoch keine Zeit für Einblicke in das jeweilige soziale System. Dazu muss man mindestens mehrere Tage an Bord verbringen.
Das soziale System Flugzeugträger
Genau diese Gelegenheit hatte ich einige Monate vor der Stippvisite von Frau Strack-Zimmermann im Rahmen meines ehrenamtlichen Mitwirkens an einer Truppenbetreuung für die U.S. Navy. Als Teil eines rund 20-köpfigen Teams Freiwilliger verbrachte ich fast eine Woche an und unter Deck des U.S.-Flugzeugträgers USS Harry S. Truman (CVN 75) irgendwo auf dem Mittelmeer. Das atomgetriebene Schiff der Nimitz-Klasse mit 97.000 Tonnen Standardverdrängung steht im Zentrum des multifunktionalen U.S.-Marineverbands CSG-8. Es gehört wie die USS Gerald R. Ford zur Naval Air Force Atlantic (AIRLANT). Für mich als langjährigen Presseoffizier (d.R.) der Bundeswehr war das eine spannende neue Erfahrung.
So befinden sich an Bord der CVN 75 im Regelbetrieb auf hoher See über 5.000 Männer und Frauen. Etwas weniger als die Hälfte davon hält 24/7 den Flugbetrieb mit knapp 70 Maschinen (primär F/A-18E Super Hornets) in Zyklen aufrecht. Die andere Hälfte arbeitet fast ausschließlich in Bereichen unter Deck. Sie erstrecken sich auf zehn Stockwerke unter der Wasserlinie. Sie sehen tagelang kein Tageslicht.
Die Schiffsbesatzung ist in insgesamt 2.700 Kajüten untergebracht. Das fliegende Personal (Air Wings) hat seine Quartiere direkt unter dem Flugdeck, der Rest darunter. Offiziere genießen das Privileg von „Zweibettzimmern“ in Form von Stockbetten, während sich Mannschaftsdienstgrade mit Drei-Stock-Kojen in Schlafsälen begnügen müssen. Auch die täglich knapp 20.000 Mahlzeiten nehmen Führungskräfte und Teammitglieder in getrennten sowie unterschiedlich ausgestatteten Messen ein.
Hierarchische Systeme und interdisziplinäre Teams
Diese Privilegien für Offiziere symbolisieren das hierarchische System Flugzeugträger sehr eindrücklich. In den deutschen Streitkräften ist das deutlich weniger ausgeprägt. Doch trotz der klaren Hierarchien gibt es auch auf dem Kriegsschiff interdisziplinäre Einheiten wie sie eigentlich typisch für agile Systeme sind. So ist zum Beispiel die Besatzung des Flugdecks in Teams untergliedert, die sich aus verschiedenen Funktionsträgern zusammensetzen. Sie unterscheiden sich vor allem durch entsprechend farbige Decktrikots. So tragen beispielsweise die „Hookup Men“ (sie bedienen die Katapulte an Deck) sowie das Wartungspersonal grün, die „Shooter“ tragen gelb, das Kraftstoffpersonal lila („Grapes“) und die Waffenexperten rot.
Auch unter Deck gibt es funktionale Teams. Sie setzen sich in der Regel aus Mannschaftsdienstgraden zusammen. Die Führung übernehmen Unteroffiziere bzw. „Petty Officer“ (PO). POs sind aber nicht nur Führungskräfte, sondern gleichzeitig Spezialisten in unterschiedlichen Disziplinen. So gibt es unter anderem verwaltungstechnische, medizinische und zahnärztliche POs, schiffstechnische POs sowie POs des bereits erwähnten Flugbetriebspersonals. Jede dieser Verwendungen sind durch Abzeichen an den Uniformen kenntlich gemacht.
Hierarchische Systeme und Selbstverantwortung
Natürlich gilt auch in interdisziplinären Teams die Pflicht zum Gehorsam. Bei den deutschen Streitkräften ist das etwa klar in §11 des Soldatengesetzes festgeschrieben. Das bedeutet aber nicht, dass Soldaten keine Spielräume für eigene Initiativen und Entscheidungen haben sollen, wie sie ebenfalls typisch für agile Strukturen sind. Im Gegenteil: Zu starre Führungsstrukturen können Militärverbänden im Kriegsfalle sogar das Genick brechen.
Das erleben immer wieder die Russen in der Ukraine, wie US-Generalleutnant a.D. Ben Hodges in einem Fachartikel zitiert wird. So sind dort bereits etliche russische Generäle sowie Bataillons- und Regimentskommandeure gefallen. Sie hätten keine Eigeninitiative ihrer Leute gefördert, Entscheidungen an sich gezogen und somit selbst an die vorderste Front gemusst. Diesen Aderlass an Führungskräften können die russischen Streitkräfte nicht ohne weiteres kompensieren.
In den deutschen Streitkräften gibt es dagegen die Freiheit zur Selbstverantwortung und Eigeninitiative. Sie wird unter anderem gewährt durch das Prinzip der Auftragstaktik (Führen mit Auftrag) und das Wehrstrafgesetz. In Letzterem ist geregelt, welche Befehle nicht befolgt werden müssen oder gar dürfen (etwa Verstöße gegen das Völkerrecht). Wichtiger ethischer Kompass dabei ist das eigene staatsbürgerliche Gewissen. Die Bundeswehr stärkt dessen Rolle als moralische Instanz durch ihre Grundsätze der Inneren Führung.
Hierarchische Systeme und die (interne) Kommunikation
Als Presseoffizier (d.R.) habe ich viele Jahre in unterschiedlichen Verbänden der Bundeswehr die externe und interne Kommunikation mitverantwortet. Dazu gehörte die Medienarbeit ebenso wie die Herausgabe klassischer Feldzeitungen bei Großübungen. Die Bedeutung von Kommunikation für die Existenz sozialer Systeme ist immanent. Denn nach Niklas Luhmann entstehen sie überhaupt erst dadurch, dass etwa ihre Untereinheiten miteinander kommunizieren.
Auch an Bord der USS Herry S. Truman gibt es ein Presse- und Informationszentrum. Die Matrosen dort produzieren TV-Sendungen, die sie regelmäßig auf TV-Geräte in den Kajüten übertragen. Außerdem posten sie auf Instagram und anderen sozialen Kanälen beinahe täglich Fotos und erstellen gedruckte Newsletter und Magazine. Letztere liegen z.B. in den Speisesälen (Messen) aus. Der Kapitän wendet sich täglich mit einer Audio-Ansprache an seine Besatzung, die via Lautsprecher in die Kajüten übertragen wird. Für das Seelenheil bieten Priester täglich Gottesdienste für verschiedene Konfessionen an. Möglichkeiten zur digitalen Partizipation oder Interaktion haben die Matrosen allerdings kaum. Allein schon aus technischen Gründen. Denn auf dem Flugzeugträger gibt es kein WLAN.
Fazit:
Jeder Mensch muss für sich selbst entscheiden, ob er Teil eines hierarchischen Systems sein kann und möchte. Wer aber glaubt, dass hierarchische Systeme keinerlei Raum für agile Elemente bieten, der irrt. So gibt es selbst beim Militär mit seinen klaren Strukturen und Prozessen multifunktionale Teams, über Silo-Grenzen hinausgehende Zusammenarbeit und Selbstverantwortung.
Wer sich übrigens fragt, wie die Matrosen mit Frust und Ärger umgehen: Es gibt natürlich Verhaltensregeln für ein gedeihliches Miteinander und Streitschlichtung. Vor allem aber gibt es rund ein Dutzend Gyms oder Workout Areas auf dem riesigen Schiff. Ach ja: Top-Gun-Feeling gibt’s natürlich nur im hierarchischen System eines Flugzeugträgers.
Titelbild: Matrosen an Bord der USS Harry S. Truman salutieren dem Chief of Naval Operations, Admiral John M. Richardson, auf dem Flugdeck. Commander, U.S. Naval Forces Europe-Africa/U.S. 6th Fleet, Public domain, via Wikimedia Commons