10/05/2019 Dr. Dominik Faust

Change der Woche: Vom Autohaus zum Erlebnishaus

Über die Transformation der Automobilbranche ist in diesem Blog seit Jahren die Rede. Insbesondere der Fahrzeughandel ist durch die Möglichkeiten der Digitalisierung stark unter Druck geraten. Interessenten finden immer seltener den Weg in ein Autohaus, bevor sie einen Wagen kaufen. Den Rest ihrer Customer Journey legen sie primär digital zurück. Dennoch investieren Markenhändler weiterhin Millionenbeträge in statische Showrooms. Warum das trotz eines Ausbaus des Online-Geschäfts sinnvoll erscheint, wurde am Donnerstag auf einer Veranstaltung der Fachzeitschrift »kfz-betrieb« in Würzburg diskutiert. Fazit: Autohäuser sollten zu Erlebnishäusern werden.

Vor einigen Jahrzehnten sind die meisten Autohäuser aus den Innenstädten in die Gewerbegebiete gezogen. Damit verschwanden ihre Marken auch aus dem Bewusstsein vieler Menschen. Das wollen etliche Hersteller rückgängig machen. Die Transformation vom Autohaus zum Erlebnishaus ist ein Mittel dazu. Sie wird getragen von der Erkenntnis, dass Menschen weiterhin attraktive Erlebnisse suchen und dafür bezahlen. Das klingt nach einem banalen Change. Doch der hat es in sich. Denn zu Ende gedacht, bedeutet er die Erweiterung des klassischen Autohandels um das Geschäftsfeld „Live Communications“. Mit den vielfach noch üblichen samstäglichen Festivitäten von Autohäusern bei Bratwurst und auf Bierbänken hat das nichts mehr zu tun.

Attraktive Erlebnisse ziehen Menschen an

Beispiel Oktoberfest

Belegen lässt sich das etwa mit dem Besuch des Oktoberfests: Eigentlich könnte man sich das Festbier auch im Supermarkt kaufen und zuhause trinken. Das wäre preiswert. Da es aber jedes Jahr Millionen Menschen aus aller Welt gibt, die sich mit Gleichgesinnten im bierdunstigen und musikgeschwängerten Festzelt mit Dirndl und Lederhose in Szene setzen möchten, sind sie gerne bereit, jedes Jahr mehr Geld für eine Maß Bier und das Erlebnis drum herum auszugeben. Diese Tatsache macht sich im übrigen seit Jahren auch die Münchner Startup-Messe Bits & Pretzels zu nutze. Am letzten Tag treffen sich alle Teilnehmer traditionell im Schottenhammel auf der Wiesn zu vorbereiteten Dialogrunden (vgl. Bild unten).

Der letzte Tag der jährlichen Startup-Messe „Bits & Pretzels“ findet traditionell auf dem Oktoberfest statt. © Faust/viadoo 2016

Beispiel Gamescom

Ein anderes Beispiel ist die Computerspiel-Community. Die Online-Gamer treffen sich jedes Jahr offline zur Gamescom in Köln. Für dieses Erlebnis und für die Möglichkeit der dortigen Selbstinszenierung in den sozialen Medien nehmen sie zum Teil weite Anreisen auf sich. Sie sind bereit, stundenlang in Schlangen zu stehen und sich fast bis zur Schmerzgrenze beschallen zu lassen (vgl. Titelbild).

Beispiel Erlebnis-Malls

Das dritte Beispiel kommt aus Braunschweig. Dort hat im März 2018 ein Kaufhaus mit eingebauter stehender Welle aufgemacht. Um die Wellenreiter auf ihren Brettern anzusehen, kommen die Menschen ins Kaufhaus (vgl. Video der Neuen Osnabrücker Zeitung unten). Parallel dazu entstehen immer mehr Malls in Deutschland. Nach Angaben der Breadcrumb Marketing GmbH in Hanau ist ihre Zahl in den letzten 18 Jahren um über 72 Prozent auf 479 Stück gestiegen. Täglich besuchen 7,1 Millionen Menschen diese Einkaufszentren (bei einem durchschnittlichen Besucheraufkommen von 15.000 Menschen am Tag).

Von diesen und ähnlichen Erlebnissen für Kunden und Interessenten sind etliche Autohäuser noch weit entfernt. Was aber nicht heißt, dass sich der Einzelhandel keine Mühe geben würden. Events gehören seit Ewigkeiten zum Marketing-Repertoire des Retails. Doch die Ansprüche der Menschen steigen ständig. Heute braucht es eigene Event- oder Live-Communications-Abteilungen im Autohaus. Weil noch nicht alle Mercedes-Benz-Händler die Kapazitäten haben, um solch anspruchsvollen Events konzipieren und realisieren zu können, hat die Daimler AG ihren Partnern eine Toolbox mit 60 möglichen Erlebnissen zusammengestellt. Die müssen natürlich auf die jeweilige lokale Situation herunter gebrochen werden.

Industriedenkmal wird Autohaus-Profit-Center

Es gibt Händler, die haben diesen Change bereits erfolgreich vollzogen. Dazu gehört etwa das Autohaus Schloz-Wöllenstein in Chemnitz. Der Mercedes-Benz-Vertreter hat dort eine alte Industriehalle des ehemaligen „VEB Kraftverkehr Karl-Marx-Stadt“ zu einer Event-Location umgebaut. Im „Kraftverkehr“ finden seit 2017 Veranstaltungen statt. Die Palette reicht von Messen, Kongressen, Ausstellungen und großen Firmen-Events bis hin zu Tagungen, Seminaren, kleineren Konzerten, Galas und privaten Feiern. Das Industriedenkmal ist jetzt ein Profit-Center des Unternehmens, das sich selbst trägt. In 2018, dem ersten kompletten Geschäftsjahr, zählten die Verantwortlichen 20.000 Besucher.

Ein anderes Beispiel ist die Mercedes-Welt am Salzufer in Berlin. Das Gebäude mit seiner außergewöhnlichen Architektur bietet Platz für unterschiedliche Events. Die Daimler AG nutzt die Location für hauseigene Veranstaltungen wie der Präsentation neuer Modelle. Sie vermietet aber auch einzelne Bereiche an Dritte. Dazu gehören etwa Konferenzräume in drei unterschiedlichen Größen für bis zu 120 Personen. Verschiedene andere Teile des Komplexes bieten Platz für bis zu 1.100 Personen. Nach Angaben des Herstellers sind diese Flächen bereits an rund 200 Tagen im Jahr vermietet. Derzeit baut der Konzern die Mercedes-Welt am Salzufer für rund 50 Millionen Euro um.

Autohaus-Cafés in edlen Innenstadtlagen

Events im Autohaus sind aber nur ein Teil der Möglichkeiten, um attraktive Erlebnisse zu schaffen. Hinzu kommen etwa Optionen mit Virtual Reality (VR) oder Augmented Reality (AR) sowie Angebote im Internet und in Innenstädten. Ein Beispiel für Letzteres bietet etwa ein Mercedes-Benz-Vertreter im schweizerischen Basel. In bester Altstadtlage betreibt die Kestenholz Holding seit 2003 den „Mercedes SPOT“. Das denkmalgeschützte Haus in der Fußgängerzone kaufte der Händler, renovierte es komplett. Im Obergeschoss ließ er Mietwohnungen errichten und im Parterre besagte Café-Bar. Sie bietet Platz für rund 80 Gäste. Und regelmäßig stellt Kestenholz in den vorletzten Raum der engen Location aktuelle Modelle der Premiummarke aus.

Ein ähnliches Konzept realisierte Daimler zehn Jahre nach dem Basler Pionier: Im Juni 2014 eröffnete der Premiumhersteller in Hamburg an der Binnenalter den ersten so genannten „Mercedes-me Store“. Im Jahr darauf folgten im Mai ein Store direkt neben dem Mailänder Dom sowie im Juli einer im Flughafen Tokio. In diesen Locations können sich Interessenten ungezwungen über die Marke Mercedes-Benz sowie über ihre Fahrzeugmodelle und Dienstleistungen informieren. In den Stores ist ein „Collection Shop“ integriert, der neben Mode- und Lifestyle-Ideen auch exklusive Reiseausrüstung anbietet. Ein Lounge- sowie ein Bistrobereich runden das Angebot ab.

Autohaus der Zukunft ist online und offline attraktiv

Zwei Drittel der Autokäufer beginnen ihre Customer Journey im Internet. In der Vergleichsphase nutzen immerhin noch 59 Prozent die Angebote im World-Wide-Web. Das ergab eine Befragungen der Kraftfahrzeug-Überwachungsorganisation freiberuflicher Kfz- Sachverständiger e. V. (KÜS). Dennoch sind Hersteller und Importeure davon überzeugt, dass der stationäre Handel eine Zukunft hat. Allerdings werden die Autohäuser künftig kleiner sein als ihre Vorläufer, weil Fahrzeuge und Ausstattungen zunehmend digital präsentiert werden können. Sie werden zudem Orte sein, an denen Menschen tolle Dinge erleben können und deshalb gerne dorthin kommen. Der reine Verkauf von Fahrzeugen rückt dadurch etwas in den Hintergrund. Das bedeutet einen großen Change für die betroffenen Unternehmen und ihre Beschäftigten.

Disclaimer: Der Autor bringt sein Know-how auch als Contributor von »kfz-betrieb« ein, der führenden Fachzeitschrift für den Automobilhandel.

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Dr. Dominik Faust

Der Autor verbindet operative Change-Leadership-Erfahrung mit hoher Methodenkompetenz sowie zertifizierte Veränderungs-Kompetenz mit multimedialer Storytelling-Expertise. Er verfügt über langjährige Expertise und etliche Zertifikate in Change Leadership, Change Management, digitaler Kommunikation und Facilitation. Als Führungskraft (+70 MA) und Top-Management-Berater hat er bereits zahlreiche Wandelvorhaben erfolgreich initiiert und konzipiert. Dominik promovierte über notwendige Veränderungen internationaler Organisationen zur Steigerung ihrer Effektivität und Effizienz. Auf Basis seiner breiten theoretischen und praktischen Change-Expertise berät er im viadoo-Team erfolgreich Führungskräfte auf C-Level.