04/08/2020 Dr. Dominik Faust

Corona-Hilfen: Bürokratie frisst Chancen zum Frühstück

»Never waste a good crisis?« Die aktuelle Krise dauert bereits über 140 Tage. Zeit, die Organisationen dazu hätten nutzen können, um systematisch Chancen für die Digitalisierung ihrer Geschäftsmodelle und anderer Zukunftsthemen zu entwickeln. Doch das scheint leichter gesagt als getan! Denn die öffentliche Hand gewährt zwar Corona-Hilfen wie günstige Darlehen zur Deckung von Fixkosten. Und sie übernimmt bis zu 87 Prozent des entfallenen Nettoentgelts von Millionen Kurzarbeitern (App!). Damit können Firmen ihren Geschäftsbetrieb fortsetzen und wertvolle Fachkräfte in ihren Reihen halten. Gleichzeitig hindert die staatliche Unterstützung jedoch Unternehmen daran, langfristige Chancen in der Krise zu entdecken. Der Staat will also Firmen vor dem Ertrinken retten. Doch die Rettungsringe seiner Verwaltung sind so eng, dass etliche daran zu ersticken drohen. Oder in Anlehnung an Peter Drucker: Die Bürokratie frisst die Chancen der Corona-Krise zum Frühstück.

Staatliche Corona-Hilfen sind gut & richtig

Wir von der Changeberatung viadoo GmbH hatten bislang ausreichend Liquidität und mussten daher keine Corona-Hilfen in Anspruch nehmen. Dennoch halten wir sie für sehr gute Instrumente zum Erhalt der Leistungsfähigkeit unsere Volkswirtschaft. Bedauerlich ist allerdings, dass das entsprechende Regelkorsett Betriebe in den Status quo bzw. „Status quo ante Digitalisierung“ zwängt. Dieses Regelkorsett lässt keine Luft mehr für überlebens-notwendige Innovationen und Veränderungen. Dabei böte die durch die COVID-19-Pandemie teilweise erzwungene Entschleunigung tatsächlich erhebliche Chancen. So könnten Unternehmen (endlich) neue digitale Angebote entwickeln, Kundenschnittstellen besetzen sowie Geschäftsmodelle, Strukturen, Kulturen überprüfen und gegebenenfalls anpassen.

Firmen, die keine staatlichen Hilfen nutzen, tun genau das. Sie sind willens und finanziell in der Lage, zum Beispiel mit Hilfe unseres Pivoting-Workshops ihr bisheriges Geschäftsmodell selbst in Frage zu stellen bzw. zu disruptieren. Aus den Ergebnissen leiten sie notwendige Veränderungsvorhaben ab, planen sie und setzen sie um, um zukunftsfähig bleiben zu können. Diese Unternehmen investieren bereitwillig in die methodische Unterstützung erfahrener externer Change Professionals & Guides, weil sie vom erwarteten ROI überzeugt sind. Doch bedauerlicherweise investieren primär jene Firmen in dieser Form, die ohnehin kaum von Corona-Folgen betroffen sind. Bedauerlich ist das deshalb, weil es alle anderen Organisationen noch nötiger hätten, um mittel- bis langfristig überhaupt überleben zu können.

Keine Zeit für Visionäre in der Kurzarbeit

Denn bei Unternehmen mit hoher Kurzarbeiterquote regieren jetzt (erst recht) keine Visionäre, sondern „Minutenzähler“. Kein Wunder: Die Betriebe meldeten der Bundesagentur für Arbeit Kurzarbeitszeiten, die gerade ausreichen, um den alltäglichen Geschäftsbetrieb aufrecht halten zu können. Penibel müssen täglich Arbeitszeitnachweise erstellt und der Behörde übermittelt werden. Wer mehr Zeit benötigt, muss beim Vorgesetzten Überstunden beantragen und gute Gründe dafür vorbringen. Fast sieben Millionen Beschäftigte waren im Mai von dieser Regelungen betroffen, über vier Millionen dürften es noch im Juni gewesen sein. Und es wird diskutiert, die Kurzarbeiterregelung zu verlängern.

Nun könnte man annehmen, dass in Unternehmen mit Kurzarbeit wenigstens die Führungskräfte die Krise nutzen, um sich intensiv mit der Zukunft ihrer jeweiligen Organisation, Business Unit, Abteilung auseinandersetzen. Doch auch da gibt es Hürden. Denn oft genug übernehmen sie Aufgaben ihrer Teammitglieder, die diese aufgrund ihrer gekürzten Arbeitszeiten nicht rechtzeitig abschließen können. So lässt auch ihnen die Bürokratie am Ende keine Zeit, um in der Krise zum Beispiel die Digitalisierung oder andere zukunftsweisende Projekte voran zu bringen. Vom Einkauf externer Unterstützung beim Konzipieren solcher Veränderungsvorhaben ganz zu schweigen! Rigorose Haushalts- bzw. Ausgabesperren der internen Bürokratie haben dem Management auch hier eiserne Fesseln angelegt.

Auch die DSGVO bremst weiter aus

Apropos eiserne Fesseln der Bürokratie: Die Beamten in Brüssel und den Hauptstädten der EU-Mitgliedsstaaten haben mit der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) ein Bollwerk gegen den Missbrauch unserer personenbezogenen Daten erschaffen. Jetzt in der Corona-Krise zeigt sich jedoch, dass dieses Werk auch wieder den Status quo zementiert und keinen Spielraum für die Lösungen handfester Probleme lässt. Als agiles und virtuell strukturiertes Unternehmen nutzen wir von der Changeberatung viadoo bereits seit vielen Jahren web- bzw. cloudbasierter Tools, um mit unseren Partnern und Mandanten jederzeit mobil arbeiten zu können.

Spätestens im Lockdown entdeckten auch andere Firmen die Vorteile von Miro, Mural, Mentimeter, Zoom, Slack oder Asana. Die meisten der oben genannten Produkte, die sich in der Regel auch noch bestens miteinander verknüpfen lassen, stammen von Anbietern aus den USA (Silicon Valley). Deren Server stehen bislang nicht in Europa. Sie sind nur bedingt DSGVO-konform und daher nicht ohne Weiteres in Europa nutzbar. Das wäre nicht so schlimm, wenn es spätestens seit Inkrafttreten der DSGVO echte europäische Alternativen für die genannten Anwendungen geben würde. Doch das war und ist nicht der Fall. So zwingt uns die Corona-Krise zwar einerseits zu verstärkter Remote Work und zum Einsatz digitaler, cloudbasierter Technologien. Doch die Bürokratie hindert uns daran, verfügbare und technisch bewährte Tools ohne Weiteres legal dafür nutzen zu dürfen.

Mehr Mut zu weniger Corona-Bürokratie

Sicher, kein Staat funktioniert ohne Bürokratie. Und in den „Amtsstuben“ dieser Republik sitzen zahllose fleißige und hoch motivierte Beamte und Angestellte, die unser Land dankenswerterweise am Laufen halten. Gerade im Lockdown haben sie weitgehend im Verborgenen Großartiges geleistet! Es ist außerdem völlig korrekt, dass die Vergabe öffentlicher Gelder wie die Corona-Hilfen zwingend daran gebunden ist, dass die Empfänger Normen einhalten. „Wer zahlt, schafft an“, lautet die entsprechende Volksweisheit. Problematisch und regelrecht kontraproduktiv wird es jedoch, wenn der Staat und seine Verwaltung nicht der Versuchung widerstehen können, in Ausführungsbestimmungen möglichst alle Schlupflöcher für Betrüger schließen zu wollen. Denn genau diese Bemühungen schnüren die Regelkorsetts so eng, dass gut gemeinte Hilfe zu lebensbedrohlicher Atemnot führt.

In der Wirtschaft predigen wir Unternehmensberater seit Jahren, Firmen sollten Dinge einfach mal ausprobieren, Fehler machen dürfen, mit minimal funktionsfähigen Produkten in Märkte gehen. Außerdem plädieren wir dafür, dass Führungskräfte ihre Teams im Sinne von „Servant Leadership“ stärker befähigen, selbständig und eigenverantwortlich zu agieren. In diesem Sinne sollten meines Erachtens auch die öffentliche Hand und ihre drei Gewalten jetzt mehr Mut zu weniger Corona-Bürokratie haben.

Drei Vorschläge zur Verbesserung der Corona-Hilfen:

  1. Die Bundesagentur für Arbeit könnte zum Beispiel Unternehmen in Kurzarbeit die Möglichkeit einräumen, all jene Zeiten gesondert ansetzen zu dürfen, die ihrer Zukunftssicherung dienen und nicht der Bewältigung des Tagesgeschäfts. Das beträfe etwa Innovations- und Kreativworkshops zur Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen, digitaler und skalierbarer Geschäftsmodelle, zum raschen Aufbau von Digitalkompetenz, zum Einrichten von Digital Units als Keimzellen der Digitalisierung, zur Integration von künstlicher Intelligenz, zum Etablieren digitaler interner Prozesse, digitaler Kommunikationsstrukturen mit den Kunden etc.
  2. Außerdem könnte der Staat Unternehmen finanziell fördern, die externe Leistungen zur Zukunftssicherung (vgl. Punkt 1) einkaufen, weil ihnen intern das entsprechende fachliche und/oder methodische Know-how fehlt. Die Bürokratie würde in die Rolle eines Enablers schlüpfen, der Hilfe zur Selbsthilfe gibt.
  3. Schließlich gäbe es die Option, dass die öffentliche Hand bei der Kontrolle von Kurzarbeitszeiten großzügig agiert. Parallelen gibt es hier zur Schwarzarbeit. Die hat in der Corona-Krise stark zugenommen, was von Ökonomen jedoch trotz der Ausfälle für die Sozialkassen nicht per se als negativ angesehen wird. Der Chef der Wirtschaftsweisen, Lars Feld, und andere Experten raten dem Staat sogar zunächst zum Nichtstun gegen die Zunahme der Schattenwirtschaft.

Ja, ich argumentiere mit den Vorschlägen auch im Sinne von Unternehmen wie dem meinem. Vor allem jedoch argumentiere ich damit im Sinne unserer gesamten Volkswirtschaft – und damit pro bono publico im eigentlichen Sinne. Denn die Unternehmen unseres Landes sollen die Corona-Krise nicht nur knapp überleben. Vielmehr sollen sie gestärkt aus ihr hervor gehen können. Das gilt gerade auch bezogen auf den globalen Wettbewerb, den wir keinesfalls aus dem Blick verlieren dürfen! Dann allerdings darf die Corona-Bürokratie nicht mit zu engen Regelkorsetts für die Corona-Hilfen Stillstand erzeugen. Und sie darf damit eben nicht Chancen der Corona-Krise schon zum Frühstück verspeisen.

Foto: © Faust / viadoo GmbH

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Dr. Dominik Faust

Der Autor verbindet operative Change-Leadership-Erfahrung mit hoher Methodenkompetenz sowie zertifizierte Veränderungs-Kompetenz mit multimedialer Storytelling-Expertise. Er verfügt über langjährige Expertise und etliche Zertifikate in Change Leadership, Change Management, digitaler Kommunikation und Facilitation. Als Führungskraft (+70 MA) und Top-Management-Berater hat er bereits zahlreiche Wandelvorhaben erfolgreich initiiert und konzipiert. Dominik promovierte über notwendige Veränderungen internationaler Organisationen zur Steigerung ihrer Effektivität und Effizienz. Auf Basis seiner breiten theoretischen und praktischen Change-Expertise berät er im viadoo-Team erfolgreich Führungskräfte auf C-Level.