04/10/2022 Dr. Dominik Faust

Sustainable Insurance ohne Change-Management?

Studie von Union Investment, Hochschule RheinMain und viadoo GmbH

Die Sustainable Insurance Transformation führt nur bei 58 Prozent befragter Versicherungsunternehmen zu einem Change-Management-Prozess. Das ist das Teilergebnis einer deutschlandweiten Studie von Union Investment und der Hochschule RheinMain in Kooperation mit der Change Beratung viadoo GmbH. Im Mittelpunkt der von Prof. Dr. Matthias Müller-Reichart durchgeführten Befragung standen Aspekte zur Umsetzung des Nachhaltigkeitsgedankens in versicherungsbetriebswirtschaftlichen Prozessen. Doch der Inhaber des Lehrstuhls für Risikomanagement der Hochschule RheinMain sowie viadoo-Gründer Dr. Dominik Faust gingen in der Studie auch der Frage nach, inwieweit Nachhaltigkeit Wandel und Change Management auslöst. Auf dem 9. Wiesbadener Versicherungskongress vergangene Woche stellte Prof. Müller-Reichart die Studie »Sustainable Insurance« der Fachöffentlichkeit vor.

Fachliche Dimension der Sustainable Insurance Transformation im Fokus

»Führt die gesellschaftlich gewachsene sowie regulatorisch verpflichtende Bedeutung von Nachhaltigkeit zu einem Change-Management-Prozess in Ihrem Unternehmen?«

So lautete die von der Change Beratung viadoo in die Studie eingebrachte (offene) Frage. Die Antworten überraschen auf den ersten Blick. Denn über 40 Prozent gaben an, dass die Nachhaltigkeit-Transformation in ihrer Organisation zu keinem Change-Management-Prozess führt.

Stattdessen stünden jetzt das Umsetzen und Anwenden der regulatorischen Vorgaben aus Brüssel im Vordergrund. Und diese Vorgaben für ökologisches, soziales und ethisches (ESG) Handeln reichen in alle Bereiche einer Organisation des Versicherungswesens. Von Strategie und Governance, Finanzen & Steuern, Produktentwicklung, Marketing & Vertrieb sowie Kommunikation bis hin zu den Beziehungen zu Partnern und Dienstleistern.

Es steht also allenthalben der rein fachliche Teil der Sustainable Insurance Transformation im Fokus der Organisationen der Versicherungsbranche. Das ist auch verständlich. Denn alleine damit haben sie bereits alle Hände voll zu tun. Zumal die EU die Finanzwirtschaft (und damit auch die Versicherer) nicht ohne Grund als Branche mit Vorreiterfunktion ausgewählt hat. Denn allein in Deutschland managen Versicherungen und Banken gemeinsam mit der Kreditwirtschaft 4,3 Billionen Euro. Daran erinnert Prof. Dr. Matthias Müller-Reichart in der Studie.

Eine lange To-Do-Liste für die Versicherungswirtschaft

Kristina Stiefel, langjährige Expertin in Risk & Regulation sowie ESG Insurance und Partnerin bei PwC, erinnerte auf dem 9. Wiesbadener Versicherungskongress, mit was sich die Beschäftigten in Sachen Nachhaltigkeit seit Monaten und Jahren so alles befassen müssen - zusätzlich zu ihrer sonstigen Arbeit:

  • Mit dem BaFin-Merkblatt zum Umgang mit Nachhaltigkeitsrisiken für die Finanzdienstleistungs-Wirtschaft von 2019.
  • Mit der Taxonomie-Verordnung der EU über die Einrichtung eines Rahmens zur Erleichterung nachhaltiger Investitionen vom Juni 2020 (2020/852).
  • Mit den Initiativen des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) vom Januar 2021.
  • Mit den nachhaltigkeits​bezogenen Offenlegungspflichten im Finanzdienstleistungssektor in Form der "Sustainable Finance Disclosure Regulation" (SFDR) vom März 2021.
  • Mit dem Entwurf des Europäischen Lieferkettengesetzes, das Transparenz im Hinblick auf Menschenrechte und Umweltrecht entlang der gesamten Wertschöpfungskette fordert in Form der "Corporate Sustainability Due Diligence Directive" (CSDDD) vom Februar 2022.
  • Mit den Vorgaben für die obligatorische Nachhaltigkeitsberichterstattung in Form der "Corporate Sustainability Reporting Directive" (CSRD), ergänzt um eigene Berichtsstandards der EU (ESRS) vom Juni 2022.

Zu den Pflichten kommen freiwillige Initiativen. Sie bestimmen ebenso das Tempo wie die engen Zeitvorgaben in den Verordnungen. So müssen sich große Finanzdienstleister beispielsweise bereits in diesem Jahr mit der Nachhaltigkeits-Berichterstattung auseinandersetzen, obwohl diese erst im nächsten Jahr obligatorisch wird. Der Grund: In die Berichte 2023 müssen Vergleiche mit dem Vorjahr einfließen, so Götz Treber, Leiter Kompetenzzentrum Unternehmenssteuerung und Regulierung des GDV.

Soziale & emotionale Dimension kaum im Fokus

Klar ist, dass Beschäftigte von Versicherungsunternehmen in der Transformation zu mehr Nachhaltigkeit aktuell ans Limit ihrer Leistungsfähigkeit gehen müssen. Allein Union Investment hatte in den vergangenen zehn Jahren 336 Maßnahmen im eigenen Hause umgesetzt. Bis 2025 sollen nach Angaben des Leiters Nachaltigkeitsmanagement, Frank Jakob, 50 weitere hinzukommen. Etliche dieser Maßnahmen betreffen die Umstellung von Versicherungsprodukten (Komposit, Leben, Kapitalanlage) auf mehr Nachhaltigkeit entlang der ESG-Kriterien. Etliche bedeuten jedoch auch einen Wandel von Gewohnheiten oder/und der Unternehmenskultur und betreffen somit soziale und emotionale Aspekte.

Umso erstaunlicher ist ein weiteres Teilergebnis der Studie: Unter den knapp 58 Prozent jener Befragten, bei denen Sustainable Insurance zu einem Change-Management-Prozess führt, erwähnte nur eine der befragten Organisationen die Bedeutung des Faktors Mensch (vgl. die TOP-5 Contra & Pro). In der entsprechenden Antwort hieß es: "Wir müssen dahin kommen, dass alle Mitarbeitenden das Thema selbstständig mitdenken und in ihre Arbeit und Prozesse integrieren." Aber nirgends ist in den Antworten zu lesen, dass und wie Führungskräfte ihre Beschäftigten in die Transformation zu mehr Nachhaltigkeit aktiv einbinden. Dabei gebe es genügend Optionen. Etwa beim Verankern des Themas in der Governance und Incentivierung.

Daraus könnte man schließen, dass das Bewusstsein der Verantwortlichen für diese überfachliche Dimension der Transformation zu mehr Nachhaltigkeit deutlich ausbaufähig ist. Das gilt ebenso für das Bewusstsein für die sozialen und emotionalen Aspekte dieses Wandels. Das wäre nicht zuletzt deshalb so wichtig, weil es am Ende von den Beschäftigten abhängt, ob das Thema Nachhaltigkeit tatsächlich nachhaltig (sic!) im Unternehmen verankert bleibt. Dazu braucht es neben veränderten Prozessen und Strukturen vor allem die entsprechende Einstellung (Mindset) sowie die entsprechende Unternehmenskultur. Beides ändert sich weder über Nacht, schon gar nicht auf Kommando. Sondern dazu bedarf es systematischer Partizipation und Kommunikation im Rahmen professioneller Change-Leadership.

Top-Manager überschätzen die Veränderungsbereitschaft ihrer Teams

Viele Versicherer setzen bei der Transformation zu mehr Nachhaltigkeit auf die intrisische Motivation ihrer Beschäftigen. Diesen Eindruck konnte man sowohl in der Studie als auch auf dem 9. Wiesbadener Versicherungskongress gewinnen.

»Unsere Stärke zur erfolgreichen Umsetzung unserer Nachhaltigkeits-Strategie ist unsere hohe Motivation und Veränderungsbereitschaft«

, hieß es da zum Beispiel. Oder:

»Beim Thema Nachhaltigkeit herrscht eine hohe intrinsische Motivation vor. Diese führt dazu, dass viele Ideen Bottom-up entwickelt werden. Ein von oben – Top-down – verordnetes Change Management durch die Unternehmensleitung ist daher eher nicht notwendig.«

Doch in diesem Punkt dürfte sich die Einschätzung der Führungskräfte in der Versicherungsbranche kaum von denen ihrer Kolleginnen und Kollegen in anderen Branchen unterscheiden. Gängig ist nämlich, dass die Belegschaften z.T. zu über 70 Prozent weder Willens noch in der Lage sind, Wandelvorhaben ihrer Führungskräfte mitzugehen (vgl. Grafik).

Zwar kann man beim Thema Nachhaltigkeit in der Regel tatsächlich von einer höheren intrinsischen Motivation der Belegschaft ausgehen als etwa bei der digitalen Transformation. Zumindest, wenn es um die grundsätzliche Zustimmung zu und um das Erreichenwollen von Nachhaltigkeits-Zielen geht. Doch sobald dies bedeutet, dass Individuen oder Teams ihre Gewohnheiten im beruflichen Alltag dauerhaft ändern müssen, ist das Potenzial an intrinsischer Motivation schnell erschöpft. Spätestens dann bedarf es einer systematischen Berücksichtigung sozialer und emotionaler Aspekte in Form einer Change-Architektur. Mit ihr kann die soziale & emotionale Motivation der Beschäftigten für nachhaltige Wandelvorhaben gelingen.

Fazit: Sustainable Insurance ist ein Moving Target

In der deutschen Versicherungsbranche werden sehr viele Anstrengungen unternommen, den Vorgaben in Sachen Nachhaltigkeit gerecht zu werden. Die Sustainable Insurance Transformation ist in vollem Gange, aber längst noch nicht abgeschlossen. Große Häuser haben eigene Organisationsstrukturen geschaffen wie einen Steuerungskreis für Nachhaltigkeit oder einen Chief Sustainability Officer (CSO). Kleinere Gesellschaften stehen hier noch am Anfang. Ähnlich verhält es sich mit der Erkenntnis, dass diese Transformation über Change-Management-Prozesse professionell gesteuert werden muss. Nur so bleibt sie selbst nachhaltig. 57,9 Prozent der Befragten teilen diese Auffassung, 42,1 Prozent tun dies nicht.

Da die Transformation zu mehr Nachhaltigkeit im Versicherungswesen jedoch im Fluss ist, sind letztlich auch die hier präsentierten Teilergebnisse der Studie nur Momentaufnahmen. Es kann durchaus sein, dass in den kommenden Monaten noch mehr Versicherer einen Change-Management-Prozess aufsetzen - und dabei auch die sozialen und emotionalen Aspekte der Transformation zu mehr Nachhaltigkeit in den Fokus nehmen. Man kann es allen Beteiligten wünschen.

Foto: Prof. Dr. Matthias Müller-Reichart (l.) und Dr. Dominik Faust bei der Vorstellung der Studie »Sustainable Insurance« auf dem 9. Wiesbadener Versicherungskongress. © viadoo GmbH


Datenbasis: Der Studie liegen umfangreiche Befragungen verschiedener Versicherungsgruppen zugrunde (n = 19). Dazu zählten sowohl große und kleine Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit (VVaG), Aktiengesellschaften aus Deutschland und Österreich wie die Generali Versicherung AG sowie Versicherungsanstalten des öffentlichen Rechts wie die Versicherungskammer Bayern. Die Ergebnisse können angesichts der Auswahl und Struktur der befragten Versicherungsgesellschaften als repräsentativ für den deutschen Versicherungsmarkt gelten. 

Disclaimer: Die Münchner Hausbank der Change Beratung viadoo GmbH ist eine der über 800 Genossenschaftsbanken in Deutschland, die über ihre Verbände bzw. Beteiligungsgesellschaften Shareholder (Minderheitsaktionäre) der Union Asset Management Holding AG ("Union Investment") sind. 


 

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Dr. Dominik Faust

Der Autor verbindet operative Change-Leadership-Erfahrung mit hoher Methodenkompetenz sowie zertifizierte Veränderungs-Kompetenz mit multimedialer Storytelling-Expertise. Er verfügt über langjährige Expertise und etliche Zertifikate in Change Leadership, Change Management, digitaler Kommunikation und Facilitation. Als Führungskraft (+70 MA) und Top-Management-Berater hat er bereits zahlreiche Wandelvorhaben erfolgreich initiiert und konzipiert. Dominik promovierte über notwendige Veränderungen internationaler Organisationen zur Steigerung ihrer Effektivität und Effizienz. Auf Basis seiner breiten theoretischen und praktischen Change-Expertise berät er im viadoo-Team erfolgreich Führungskräfte auf C-Level.